Zoom, Silvester und die neue Normalität

Während die Pandemie viele alte Routinen verworfen hat, sind andere längst Teil einer neuen Normalität. Warum es sich lohnt diese Normalität aufzubrechen und was das mit Zoom und Silvester zu tun hat – ein Essay.

Das Jahr 2020 ist vorbei und während der Pandemie-Alltag präsent bleibt, bleicht die Erinnerung an Silvester schon langsam wieder aus. Die Tradition Silvester als gesellschaftliche Institution der Reflexion zu nutzen, scheint dabei in vielen Milieus nicht mehr zeitgemäß. Innehalten, so die Argumentation, sei immer möglich und dafür brauche es keine gesamtgesellschaftliche Reflexions-Instanz, die dann noch mit billigem Sekt und den normalerweise obligatorischen Böllern abgerundet wird. Gerade die Corona-Pandemie, so attestiert etwa der Soziologe Hartmut Rosa, ließe sich als erzwungene Routine-Unterbrechung und somit als Ermöglichung des ausschweifenden Nachdenkens verstehen. Wieso also jetzt Innehalten, wenn der Lockdown dies (zumindest einigen) doch rund um die Uhr ermöglicht?

Vielleicht findet sich die Antwort in den neu entstandenen Routinen, die sich mittlerweile als neue Normalität präsentieren und eine reflexive Distanzierung immer schwieriger machen. Lässt sich also noch eine Welt außerhalb von Zoom-Konferenzen, Social-Distancing und FFP2-Masken denken? In der öffentlichen Debatte finden sich dazu grob vereinfacht zwei Szenarien: Auf der einen Seite existieren die Rufe nach einer Rückkehr zur alten Normalität. Alles solle zurückgedreht werden – sobald wie möglich. Und die Welt sei dann wieder wie vorher – zumindest für die Privilegierten der Gesellschaft. Die Tourismusbranche und die staatliche Unterstützung etwa des TUI-Konzerns finden darin ihren Ausdruck. Wenn nur die Pandemie vorbei ist, soll wieder geflogen werden, eine grenzenlose, aber privilegierte Mobilität ermöglicht und der alte Status Quo der partikularen Prosperität wiederhergestellt werden. Auf der anderen Seite steht die Forderung nach einer Abkehr von einer alten, vermeintlich stabilen Normalität. Die vielfach verwendete Brennglas-Metaphorik der Pandemie verdeutlicht in diesem Narrativ die Verbindungslinien der lang übersehenen Klassenungleichheiten, der Verwerfungen der Klimakrise und der prekären Zustände im Gesundheitswesen. Robert Habeck, Bundesvorsitzender der Grünen, bringt diese Position in seiner realpolitischen Fassung auf den Punkt: „Zurück zur alten Normalität ist kein wünschenswerter Zustand.“

Doch während über verschiedene Zukunftsvisionen diskursiv und auch auf den Straßen gerungen wird, haben sich große Teile dieser neuen Normalität längst ins Alltagsleben geschlichen. Das Neue ist zum Selbstverständlichen geworden. Zoom-Seminare sind dabei wohl ein paradigmatisches Beispiel. Wie aufregend waren die vielen bunten Kacheln bei den ersten Sitzungen? Dort läuft eine Katze durchs Bild, während hier eine andere Person entspannt beim Seminar Pasta kocht. Das private Zimmer wurde zum Schauplatz von Identität und die ohnehin schwierige Trennung zwischen Privatem und Universität schien völlig zu erodieren. Im zweiten digitalen Semester ist dagegen vieles eingespielt. Natürlich wird sich hier und dort über das Format oder die Qualität der digitalen Lehre beschwert, doch insgesamt wirkt alles viel routinierter und irgendwie normal. Und natürlich ist diese Normalisierung in einigen Bereichen nicht zwingend negativ, birgt aber Gefahren. Denkbare Szenarien gibt es viele: Eine Universität, welche Lehre auch nach der Pandemie primär digital plant, um Ressourcen zu sparen und dem Ideal einer neoliberalen Universität ein Stück näherzukommen. Oder etwa Erstsemester-Studierende, die nicht in die Stadt ihres Studiums ziehen und für die eine digitale Universität ohne physische Diskussionen der Normalzustand ist und bleibt. Analog zur Universitätslandschaft ließe sich diese Liste etwa in der Fortführung von prekären Arbeitsverhältnissen oder auch in der Legitimierung von gesenkten Umweltstandards beliebig erweitern.

Ohne nun in einen einseitigen Kulturpessimismus zu verfallen, lohnt es sich in Zeiten einer Pandemie immer wieder die neue Normalität bewusst zu machen. Sie in manchen Fällen zu ent-normalisieren und zu politisieren. Denn während viele unserer neuen Routinen funktional helfen den Pandemie-Alltag zu überstehen, ermöglichen andere wiederum geräuschlos und ohne große Rechtfertigung Errungenschaften von vor der Krise rückabzuwickeln. Vielleicht helfen gerade bei solchen Überlegungen Zeitabschnitte der Distanz wie Silvester und die Neujahrstage – an welchen man ausnahmsweise mal in keinem Zoom-Call steckt.