Weltreise in eine vergangene Zukunft

In ihrem Buch „Reisende der Weltrevolution“ erzählt Brigitte Studer eine Geschichte, die uns heute mehr als nur 100 Jahre weit entfernt vorkommt. Ausgehend von ausgewählten Biografien zeichnet die Autorin die Entwicklung der Kommunistischen Internationalen nach: eine global agierende, avantgardistische Kader*innen-Struktur, die von 1920 bis 1943 nicht mehr und nicht weniger als die Weltrevolution versucht. Von Berlin, über Moskau bis nach Baku und Shanghai reisen die Berufsrevolutionär*innen, schmuggeln Waffen und Pässe, betreiben Propagandazeitschriften und Solidaritätskampagnen, organisieren Kongresse und Aufstände – und scheitern am Ende. In neun geografisch unterteilten Kapiteln verfolgt Studer die Windungen der Geschichte der Komintern. Der anfängliche Fokus der revolutionären Bestrebungen auf Deutschland und Berlin verschiebt sich bald auf Asien und vor allem auf China. Gleichzeitig machen sich die Kader*innen daran Netzwerke mit Aktivist*innen kolonisierter Länder aufzubauen und die muslimische Welt einzubinden in das Projekt der Weltrevolution. Zum Abschluss wirft Studer noch einmal den Blick auf Europa, den spanischen Bürgerkrieg, die Flucht vor dem NS und den stalinistischen Terror.

Wie das Projekt zum Scheitern kommt und was auf dem global verschlungenen Weg dahin passiert schildert Studer teilweise literarisch und anekdotisch. Aber die Leser*innen sollten sich eines vor Augen halten: „Reisende der Weltrevolution“ ist kein Roman, sondern die Professorin für Schweizer und Neueste Allgemeine Geschichte an der Universität Bern legt hier eine wissenschaftliche Studie vor. Der Lesbarkeit und auch dem Erkenntnisgewinn der Leser*innenschaft hätte es dennoch gut getan, sich in die Sprache und die Inhalte der (unglaublich zahlreichen!) hinzugezogenen Schriftstücke, Bilder und Akten zu vertiefen. Der Beitrag der Quellen zur Konstruktion der historischen Wirklichkeit der Revolutionär*innen, zur Entwicklung eines weltumspannenden Projektes lässt sich in rohen Zahlen und Namen, in denen sich Studer zuweilen verliert, schlecht erfassen. Auch die fehlende theoretische Rahmung, mit allen ihren Widersprüchen zur revolutionären Praxis, lässt die tiefen Beweggründe der Militanten oftmals nur erahnen.

Studer konzentriert sich explizit auf die Biografien von ca. 300 Kommunist*innen. Sie arbeitet deren abenteuerlichen und abwechslungsreichen Arbeitsalltag heraus sowie die Handlungsspielräume in denen sie agieren. Dabei fällt die Auswahl aber vor allem auf solche, die besonders lange Zeit im Apparat der Komintern aktiv waren. Das ist spannend, widmeten diese Aktivist*innen doch einen Großteil ihres Lebens der Komintern. Studer lässt damit aber jene Linksradikalen außen vor, die in der Euphorie der Anfangsjahre zwar Teil des Projektes waren, sich aber angesichts von politischem Dissens bald wieder davon trennten. So wird die Niederschlagung des Kronstädter Matrosenaufstandes 1921, als autoritärer Wendepunkt der russischen Revolution, mit keinem Wort erwähnt. Besonders sichtbar macht Studer jedoch weiblich sozialisierte Akteurinnen und den feministischen Kampf um Emanzipation, der durchaus auch gegen die eigenen Genossen geführt werden musste. Dass sich Macht- und Unterdrückungsformen auch in der Komintern fortsetzen zeigt sich auch an anderen Stellen. Mit wenigen Ausnahmen stehen europäische Perspektiven und Biografien im Mittelpunkt der Betrachtung. Studer selbst begründet das mit dem fehlenden sozialen Kapital der Aktivist*innen aus kolonisierten Ländern, die sich daher nicht in der Komintern durchsetzen konnten, obwohl sich die Revolutionshoffnungen nach dem Scheitern der deutschen Revolutionsversuche Anfang der 20er-Jahre zunehmend auf den Osten Asiens und die kolonisierten Länder richtet.

Bei aller Kritik ist die Lektüre dennoch fesselnd und zeigt vor allem eines: auch aus der akteur*innenzentrierten Geschichte der Komintern lässt sich exemplarisch der Aufbruch und das Scheitern des kommunistischen Projektes nachzeichnen. Geradezu elektrisierend ist die Erzählung vom 2. Weltkongresses der Internationalen 1920 in Moskau: getrieben von Euphorie und Zuversicht reisen 217 Delegierte in die Hauptstadt der Revolution. Verbunden in dem Glauben an die Möglichkeit einer nahenden kommunistischen Zukunft machen sie sich an die Konstruktion einer globalen Organisation von Revolutionär*innen. Weder „Weltrevolution“ noch „Internationale Solidarität“ sind hier propagandistische Floskeln. Es sind Versprechen, deren Erfüllung sich die Kommunist*innen, in all ihrer anfänglichen politischen Vielheit, 1920 ganz nahe fühlen. Illustriert wird dies in Studers Buch unter anderem durch Briefe von Hilde Kramer, einer zwanzigjährigen Übersetzerin, die schon in der Münchner Räterepublik Artikel für eine kommunistische Zeitung schreibt und gefälschte Pässe verteilt. Auch sie ist in Moskau zugegen und berichtet mit Begeisterung, dass auf dem Kaiserpalast die rote Fahne weht und im Thronsaal der Kongress tagt und die Weltrevolution diskutiert. Zu diesem ersten Kapitel im erschütternden Kontrast steht das letzte: im spanischen Bürgerkrieg verrät die Komintern die Revolution an die Wahrung sowjetischer Interessen. Die Komintern ist nunmehr nur noch Instrument der sowjetischen Partei und ihrer Repression. Angst, Überwachung und Verrat prägen den Alltag der Antifaschist*innen. Die Hoffnung auf die Weltrevolution ist aufgegeben, die Vielheit ist der Vereinheitlichung gewichen. Die Mehrheit der im Buch skizzierten Lebensläufe endet im stalinistischen Terror. Studer zeigt, dass es in all den revolutionären Aufbrüchen der 20er-Jahre, sei es in Deutschland oder China, eine kontinuierliche Entwicklung gibt von zunehmender Kontrolle, Ausschließung und Opportunismus. Und sie zeigt auch: die sowjetische Vormachtstellung ist im Moskauer Gründungskongress der Komintern schon angelegt, da sich die internationalen Genoss*innen an der erfolgreichen Revolution orientieren.

Die verschlungenen Wege der Kommunist*innen mitzuverfolgen ist in vielerlei Hinsicht berührend. Wenn Studer detailliert schildert, welche Maßnahmen die Revolutionär*innen in Shanghai gegen die Repressionen treffen, nur um letztendlich doch verraten zu werden und aufzufliegen, können die Leser*innen förmlich fühlen, wie revolutionäre Freude, Aufbruchstimmung und Zuversicht, in Angst, Niedergeschlagenheit und Trauer umschlagen. Beeindruckend ist dabei vor allem die Militanz der international vernetzten Avantgarde. Oftmals geben sie ihr ganzes altes Leben auf, um sich in den Dienst der Partei und der Revolution zu stellen, reisen je nach Auftrag von einem zum anderen Ort und nehmen Gefängnis, Folter oder Tod in Kauf. Immer gelten größte Vorsichtsmaßnahmen gegen Repression und gleichzeitig die Bereitschaft, von allen notwendig erscheinenden Mitteln Gebrauch zu machen. Dennoch: auch Scheitern und Zweifel werden als Teil des nomadischen Lebens, oftmals in den Nischen der Illegalität, geschildert. Nicht weniger konsequent waren die Kommunist*innen in ihrem Internationalismus. Es ging um nicht mehr und nicht weniger als darum, die ganze Welt zu gewinnen, die Menschen zu befreien von Rassismus, Sexismus, Kolonialismus und Klassenherrschaft. Und zwar gemeinsam und über alle Grenzen hinweg. Aber auch hier glorifiziert Studer nicht. Der Status von weiblich sozialisierten Militanten und Aktivist*innen aus kolonialen Ländern bleibt in der Komintern marginalisiert.

Bei aller Widersprüchlichkeit und Uneindeutigkeit, ist eines sicher: es gibt noch abertausende Geschichten der Weltrevolution zu erzählen. Auch auf über 600 Seiten wird die Autorin damit nicht fertig. Die lehrreiche Studie von Brigitte Studer sei jedoch all jenen ans brennende Herz gelegt, die in einer traurigen Gegenwart Trost und Ermutigung suchen, in dem Versprechen auf eine bessere Zukunft – aus der Vergangenheit.

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Brigitte Studer: Reisende der Weltrevolution. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 618 S., 30 €

Zoom, Silvester und die neue Normalität

Während die Pandemie viele alte Routinen verworfen hat, sind andere längst Teil einer neuen Normalität. Warum es sich lohnt diese Normalität aufzubrechen und was das mit Zoom und Silvester zu tun hat – ein Essay.

Das Jahr 2020 ist vorbei und während der Pandemie-Alltag präsent bleibt, bleicht die Erinnerung an Silvester schon langsam wieder aus. Die Tradition Silvester als gesellschaftliche Institution der Reflexion zu nutzen, scheint dabei in vielen Milieus nicht mehr zeitgemäß. Innehalten, so die Argumentation, sei immer möglich und dafür brauche es keine gesamtgesellschaftliche Reflexions-Instanz, die dann noch mit billigem Sekt und den normalerweise obligatorischen Böllern abgerundet wird. Gerade die Corona-Pandemie, so attestiert etwa der Soziologe Hartmut Rosa, ließe sich als erzwungene Routine-Unterbrechung und somit als Ermöglichung des ausschweifenden Nachdenkens verstehen. Wieso also jetzt Innehalten, wenn der Lockdown dies (zumindest einigen) doch rund um die Uhr ermöglicht?

Vielleicht findet sich die Antwort in den neu entstandenen Routinen, die sich mittlerweile als neue Normalität präsentieren und eine reflexive Distanzierung immer schwieriger machen. Lässt sich also noch eine Welt außerhalb von Zoom-Konferenzen, Social-Distancing und FFP2-Masken denken? In der öffentlichen Debatte finden sich dazu grob vereinfacht zwei Szenarien: Auf der einen Seite existieren die Rufe nach einer Rückkehr zur alten Normalität. Alles solle zurückgedreht werden – sobald wie möglich. Und die Welt sei dann wieder wie vorher – zumindest für die Privilegierten der Gesellschaft. Die Tourismusbranche und die staatliche Unterstützung etwa des TUI-Konzerns finden darin ihren Ausdruck. Wenn nur die Pandemie vorbei ist, soll wieder geflogen werden, eine grenzenlose, aber privilegierte Mobilität ermöglicht und der alte Status Quo der partikularen Prosperität wiederhergestellt werden. Auf der anderen Seite steht die Forderung nach einer Abkehr von einer alten, vermeintlich stabilen Normalität. Die vielfach verwendete Brennglas-Metaphorik der Pandemie verdeutlicht in diesem Narrativ die Verbindungslinien der lang übersehenen Klassenungleichheiten, der Verwerfungen der Klimakrise und der prekären Zustände im Gesundheitswesen. Robert Habeck, Bundesvorsitzender der Grünen, bringt diese Position in seiner realpolitischen Fassung auf den Punkt: „Zurück zur alten Normalität ist kein wünschenswerter Zustand.“

Doch während über verschiedene Zukunftsvisionen diskursiv und auch auf den Straßen gerungen wird, haben sich große Teile dieser neuen Normalität längst ins Alltagsleben geschlichen. Das Neue ist zum Selbstverständlichen geworden. Zoom-Seminare sind dabei wohl ein paradigmatisches Beispiel. Wie aufregend waren die vielen bunten Kacheln bei den ersten Sitzungen? Dort läuft eine Katze durchs Bild, während hier eine andere Person entspannt beim Seminar Pasta kocht. Das private Zimmer wurde zum Schauplatz von Identität und die ohnehin schwierige Trennung zwischen Privatem und Universität schien völlig zu erodieren. Im zweiten digitalen Semester ist dagegen vieles eingespielt. Natürlich wird sich hier und dort über das Format oder die Qualität der digitalen Lehre beschwert, doch insgesamt wirkt alles viel routinierter und irgendwie normal. Und natürlich ist diese Normalisierung in einigen Bereichen nicht zwingend negativ, birgt aber Gefahren. Denkbare Szenarien gibt es viele: Eine Universität, welche Lehre auch nach der Pandemie primär digital plant, um Ressourcen zu sparen und dem Ideal einer neoliberalen Universität ein Stück näherzukommen. Oder etwa Erstsemester-Studierende, die nicht in die Stadt ihres Studiums ziehen und für die eine digitale Universität ohne physische Diskussionen der Normalzustand ist und bleibt. Analog zur Universitätslandschaft ließe sich diese Liste etwa in der Fortführung von prekären Arbeitsverhältnissen oder auch in der Legitimierung von gesenkten Umweltstandards beliebig erweitern.

Ohne nun in einen einseitigen Kulturpessimismus zu verfallen, lohnt es sich in Zeiten einer Pandemie immer wieder die neue Normalität bewusst zu machen. Sie in manchen Fällen zu ent-normalisieren und zu politisieren. Denn während viele unserer neuen Routinen funktional helfen den Pandemie-Alltag zu überstehen, ermöglichen andere wiederum geräuschlos und ohne große Rechtfertigung Errungenschaften von vor der Krise rückabzuwickeln. Vielleicht helfen gerade bei solchen Überlegungen Zeitabschnitte der Distanz wie Silvester und die Neujahrstage – an welchen man ausnahmsweise mal in keinem Zoom-Call steckt.

„Wir reden falsch über Rassismus!“

Am vergangenen Freitag las Alice Hasters im Studierendenhaus in Bockenheim aus ihrem Buch „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“. Die Autorin, geboren 1989 in Köln, ist Tochter einer Schwarzen Mutter und eines Weißen Vaters. Ihre Herkunft hat ihren Alltag von klein auf verkompliziert: Das autobiographische Buch beschreibt eine Auswahl des alltäglichen Rassismus, der ihr in Deutschland seit frühster Kindheit begegnet. Das Werk dominierte im letzten Jahr viele Bestsellerlisten und wird oft in einem Zug mit anderen Werken wie „Exit Racism“ von Tupoka Ogette oder „Deutschland Schwarz Weiß“ von Noah Snow genannt. Organisiert wurde das Event von „GG Vybe“, einer Gruppe weiblicher DJs, denn auch in der Welt von HipHop, RnB und Pop ist der Grat zwischen Aneignung und Empowerment ein schmaler.

Alice Hasters (Fotos: Bruno Papic)

In den knapp 2 ½ Stunden wurden in einer Mischung aus Lesung und Q&A viele Themen angeschnitten: Intersektionalität, Cultural Appropriation und positiver Rassismus. Täter-Opfer-Umkehr, die vielen schmalen Gratwanderungen und die Alltäglichkeit der Diskriminierung. Nicht selten schüttelten Zuhörer*innen den Kopf angesichts des geschilderten, blanken Rassismus, der Hasters in der Mitte Deutschlands begegnet. Überraschend? Eigentlich nicht.

Ein Jahr ist seit der Veröffentlichung ihres Buches im September 2019 bereits vergangen. Damals fiel Hasters in vielen Kreisen noch als Vertreterin einer radikalen Meinung auf und Begriffe wie BPoC waren für die breite Masse noch Neuland. Seitdem ist das Thema Rassismus im öffentlichen Diskurs angekommen und die damit verbundenen Probleme und Begriffe sind so präsent, da ist es schwer geworden, sich mit Unwissen herauszureden. Horst Seehofer versucht es trotzdem (mit mäßigem Erfolg).

Für Hasters persönlich ist insbesondere seit dem Tod von George Floyd vieles anders: „Ich hatte wahnsinnige Angst, Fehler zu machen“. Mittlerweile hat sie akzeptiert, dass sie nicht alle Erwartungen erfüllen kann: „Sich nicht zu zensieren, ist das wichtigste. Ich möchte niemanden verletzen, aber zuerst muss ich mich selbst schützen! Und ich kann besser mit mir leben, wenn ich meine Wut rauslasse.“ Laute Wut kann man sich als Außenstehender bei dieser ruhigen Frau allerdings kaum vorstellen. Dieser Wirkung ist sich Hasters bewusst: „Meine eigene Art ist kein Maßstab! Es muss auch Menschen geben, die aggro sind.“

Auch wenn die Wichtigkeit dieses Themas außer Frage steht, so fällt an diesem Abend auf: Hier sind Menschen zusammengekommen, die sich und ihre Umwelt reflektieren und ein gesellschaftliches Problem erkannt haben. Anhand der Publikumsfragen wird deutlich, dass die Anwesenden sich bereits mit dem Thema beschäftigt haben, sei es aufgrund der gesellschaftlichen Thematisierung in den letzten Monaten oder weil sie ihn selbst erlebt haben.

Darin besteht das Kernproblem von Lesungen und ähnlichen Veranstaltungen, insbesondere bei solchen, die fest verankerte Denkmuster herausfordern und gesellschaftliche Missstände anprangern. In diesem Fall: Die, die es hören sollten und müssten, sind höchstwahrscheinlich nicht da. Ein echter Diskurs kann in einer solchen Blase allerdings nur begrenzt stattfinden. Die eigene Komfortzone hat an diesem Abend wohl niemand richtig verlassen.

Vermutlich ist niemand gänzlich frei von rassistischen Denkmustern. Umso wichtiger ist es, sich selbst kritisch zu hinterfragen. Hasters sieht an dieser Stelle das Grundproblem: „Wir reden falsch über Rassismus!“ Es geht zuallererst darum, den Dialog zu suchen und eingefahrene Muster in Frage zu stellen. Dass dieser Diskurs zwingend harmonisch ablaufen muss, ist für Hasters kein Kriterium. Hauptsache, er wird geführt. Auch von und mit Horst Seehofer.


Fazit: Wer gerade beginnt, sich mit dem Thema Rassismus und verwandten Diskursen auseinander zu setzen, für den ist dieses Buch gemacht. Sagen dir allerdings Begriffe wie Intersektionalität und Cultural Appropriation bereits etwas, dann gehörst du wahrscheinlich nicht zur primären Zielgruppe. Aber auch wenn du dich bereits mit dem Diskurs beschäftigst: Alice Hasters’ Buch nimmt sich der Thematik nicht aus einer übermäßig verkopften Richtung an, sondern stellt mit anschaulichen Schilderungen dessen erschreckende Alltäglichkeit in der Mitte unserer angeblich aufgeklärten Gesellschaft dar.

„Ich hoffe einfach, dass ich bald wieder Musik vor Menschen spielen kann.“ – Der Studierende und DJ Nico im Interview über die Corona-Pandemie

Foto: Max Patzig

Nico studiert Lehramt mit den Fächern Theologie und Geschichte an der Goethe Universität und tritt gleichzeitig als DJ unter dem Künstlernamen Mr. Tone in ganz Deutschland auf, um sich so sein Studium zu finanzieren. 2018 wurde er deutscher Champion bei der Weltmeisterschaft im DJing (Red Bull 3Style) und vertrat Deutschland bei der Weltmeisterschaft in Taiwan. Im Interview mit FaSe spricht er von den Schwierigkeiten, die ihm als Studierender und  Künstler in die Corona-Pandemie begegnen.

B: Du bist mittlerweile schon einige Jahre als DJ aktiv und finanzierst dir so dein Studium und deinen Lebensunterhalt. DJ und Lehramtsstudent mit den Fächern Religion und Geschichte, wie passt das zusammen?

N: Menschen werden ja in der Wahrnehmung anderer meistens auf einige wenige Merkmale festgelegt. Aber ich glaube, dass Identität ist ein sehr vielfältiges Phänomen und Ich habe schlicht ganz verschiedene Interessen. Ich habe mich schon immer sehr für Musik interessiert und ich habe mich auch schon immer sehr für die Themen interessiert, die ich studiere. Das ist einerseits Pädagogik – also Arbeit mit Kindern und Jugendlichen – andererseits aber auch Geschichte, Theologie und Philosophie. Die Fächer passen ja eigentlich ganz gut in ein Bild, da sie inhaltlich nahe beieinander liegen. Insofern glaube ich gar nicht, dass das so eine ungewöhnliche Kombination ist, sondern einfach unterschiedliche Interessen.

B: Wie beeinflusst dein Studium deine Musik und umgekehrt, wie beeinflusst deine Musik vielleicht dein Studium? 

N: Ich glaube durch mein Studium, gerade das Studium der Philosophie, bin ich tendenziell etwas mehr ‚aware‘. Das ist ja ein Schlagwort, das heute oft fällt. Ich glaube ich bin vielleicht ein bisschen sensibler für gewisse Bereiche des Politischen. Ich mache ja maßgeblich Hip-Hop und einige Fragen die da im Diskurs aufkommen so wie Sexismus, Gewaltverherrlichung oder Drogenkonsum  sind für mich nochmal aus einer anderen Perspektive präsent, als das für viele andere in der Szene der Fall ist. Im Gegenzug bereichert die Musik mein Verständnis für Wissenschaft und den universitären Betrieb, weil ich dort mit ganz anderen Menschen in Kontakt komme und auch dadurch wieder für ganz andere Themen sensibilisiert werde. Gerade in der Wissenschaft neigt man ja dazu in seiner ‚Bubble‘ verhaftet zu sein und das passiert mir dadurch, dass ich im Nachtleben aktiv bin und dort mit Menschen zu tun habe, die, ganz wertungsfrei gesagt, sehr fern sind von dem was an der Universität passiert, eher weniger.

B: Du sprichst schon an, dass du in deinem Job viel mit Menschen in Kontakt bist. Die Clubs, in denen Du normalerweise auflegst, sind gerade auf Grund der Corona-Pandemie geschlossen. Was vermisst Du an deinem Job gerade am meisten?

N: Naja, als Musiker lebt man davon vor Leuten aufzutreten und das fällt natürlich gerade komplett weg. Viele meiner Kollegen versuchen das über Livestreams zu kompensieren und natürlich haben wir da Vorteile, die wir vor zehn oder fünfzehn Jahren nicht gehabt hätten. Aber das kann den Livebetrieb nicht ersetzen. 

B: Aber nicht nur dein Job, sondern auch dein Studium hat sich durch die aktuelle Situation verändert. Wie kommst du mit dem „Digitalen Sommersemester“ zurecht?

N: Also ich studiere ja an zwei Universitäten und mein Studium an der Goethe Universität ist davon relativ unberührt gewesen, da ich eigentlich keine Veranstaltungen mehr besuchen muss. Ich habe gerade meine Examensarbeit geschrieben und da war es natürlich ein bisschen komplizierter an Bücher zu kommen und in der Bibliothek arbeiten war nicht möglich. Aber insgesamt war es relativ unkompliziert. Parallel studiere ich Philosophie an der PTH Sankt Georgen und habe da auch einige Onlineseminare besucht und muss sagen, dass es schwierig ist, die Seminarkultur online zu reproduzieren. Meiner Wahrnehmung nach ist es schwierig wirklich ins Gespräch oder in die Diskussion zu kommen. Viele Menschen haben ganz andere Vorbehalte sich online zu äußern und möchten sich viel bedachter artikulieren als das vielleicht in einem Seminar der Fall wäre. Für eine Gesprächskultur ist das natürlich hemmend.

B: Man hört ja von einigen Studierenden, dass das digitale Semester einen deutlich höheren Arbeitsaufwand mit sich bringt. Wie sieht das bei dir aus?

N: Das kann ich so nicht wirklich bestätigen, aber ich glaube das kommt sehr auf die spezifischen Veranstaltungen an, deswegen kann ich dazu gar kein pauschales Urteil abgeben. 

B: Es wurde viel darüber diskutiert ob die Unterstützung für Studierende, die in eine schwierige finanzielle Situation geraten sind, ausreicht. Du bist gleichzeitig auch noch selbstständiger Künstler. Hast Du das Gefühl, dass genug für Dich und deine Branche getan wird? 

N: Naja, das ist schon alles ein bisschen absurd. In meiner speziellen Situation ist es so: Ich hätte Arbeitslosengeld beantragen können, aber dann hätte ich nicht weiter studieren können. So ist zumindest mein Kenntnisstand. Und das ist ja schon mal das erste Problem: Es ist hier gar nicht so ganz klar, wer Ansprüche auf was hat. Wenn das für mich, der intensiv versucht hat sich damit auseinanderzusetzen und einen Steuerberater hat, so unübersichtlich ist, dann kann ich mir vorstellen, dass viele vor ähnlichen Schwierigkeiten stehen und vielleicht sogar noch größere Probleme haben, sich zu informieren. Der zweite Punkt ist dann, dass es eine Soforthilfe gab. Die ist allerdings nur für laufende Betriebskosten und nicht für Lebenshaltungskosten. Wie soll man seinen Lebensunterhalt über ein halbes Jahr oder noch länger finanzieren, ohne tatsächlich Unterstützung zu bekommen. Klar, man kann sich arbeitslos melden, aber für ganz viele Menschen in einer anderen Situation als der meinen ist das ein riesiges Problem. Zum Beispiel wenn man eine Familie hat, die man ernähren muss und nicht weiß, wann man wieder arbeiten kann. Selbst wenn man solo-selbstständig ist, hat man sich eine Marke als Person aufgebaut. Da ist es nicht so einfach, mal eben den Beruf zu wechseln.

B: Du sprichst einen Berufswechsel an. Musstest Du Dir einen anderen Job für die Zeit der Corona-Einschränkungen suchen?

N: Ja. Das hat es für mich persönlich besonders schwierig gemacht hat, da ich gerade in der Abschlussphase meines Studiums bin. Ich hatte mir eigentlich meinen Terminkalender für das restliche Jahr so gelegt, dass ich mich gut hätte finanzieren und mich parallel auf mein Examen zu fokussieren können. Jetzt muss ich natürlich in einem deutlich schlechter bezahlten Job deutlich mehr Stunden arbeiten um mein restliches Studium zu finanzieren. Das ist natürlich eine Mehrbelastung.

B: Zum Abschluss vielleicht noch ein kleiner Ausblick: Du hast schon an DJ-Wettbewerben im Ausland teilgenommen. Solche Events scheinen gerade noch in weiter Ferne. Wann glaubst Du, kannst Du wieder auflegen und welche Veränderungen wünschst Du Dir in der Clubkultur, wenn es wieder los geht? 

N: Das ist jetzt quasi der Blick in die Glaskugel und ich habe eigentlich eher versucht mich davon fern zu halten, weil es vollkommen unabsehbar ist, was passiert. Ich weiß nicht, ob es Clubkultur, wie wir sie kennen, in Deutschland 2021 überhaupt noch geben wird. Meine Befürchtung ist, dass ganz viele Unternehmen insolvent gehen werden. Vielleicht müssen wir wieder bei null beginnen. Außerdem werden sich viele große Sponsoren, die solche DJ-Wettbewerbe bisher möglich gemacht haben, fragen, ob das jetzt die Branche ist, in die sie Geld stecken möchten. Keine Ahnung, was da passieren wird. Ich hoffe einfach, dass ich bald wieder Musik vor Menschen spielen kann.

Foto: Max Patzig