In ihrem Buch „Reisende der Weltrevolution“ erzählt Brigitte Studer eine Geschichte, die uns heute mehr als nur 100 Jahre weit entfernt vorkommt. Ausgehend von ausgewählten Biografien zeichnet die Autorin die Entwicklung der Kommunistischen Internationalen nach: eine global agierende, avantgardistische Kader*innen-Struktur, die von 1920 bis 1943 nicht mehr und nicht weniger als die Weltrevolution versucht. Von Berlin, über Moskau bis nach Baku und Shanghai reisen die Berufsrevolutionär*innen, schmuggeln Waffen und Pässe, betreiben Propagandazeitschriften und Solidaritätskampagnen, organisieren Kongresse und Aufstände – und scheitern am Ende. In neun geografisch unterteilten Kapiteln verfolgt Studer die Windungen der Geschichte der Komintern. Der anfängliche Fokus der revolutionären Bestrebungen auf Deutschland und Berlin verschiebt sich bald auf Asien und vor allem auf China. Gleichzeitig machen sich die Kader*innen daran Netzwerke mit Aktivist*innen kolonisierter Länder aufzubauen und die muslimische Welt einzubinden in das Projekt der Weltrevolution. Zum Abschluss wirft Studer noch einmal den Blick auf Europa, den spanischen Bürgerkrieg, die Flucht vor dem NS und den stalinistischen Terror.
Wie das Projekt zum Scheitern kommt und was auf dem global verschlungenen Weg dahin passiert schildert Studer teilweise literarisch und anekdotisch. Aber die Leser*innen sollten sich eines vor Augen halten: „Reisende der Weltrevolution“ ist kein Roman, sondern die Professorin für Schweizer und Neueste Allgemeine Geschichte an der Universität Bern legt hier eine wissenschaftliche Studie vor. Der Lesbarkeit und auch dem Erkenntnisgewinn der Leser*innenschaft hätte es dennoch gut getan, sich in die Sprache und die Inhalte der (unglaublich zahlreichen!) hinzugezogenen Schriftstücke, Bilder und Akten zu vertiefen. Der Beitrag der Quellen zur Konstruktion der historischen Wirklichkeit der Revolutionär*innen, zur Entwicklung eines weltumspannenden Projektes lässt sich in rohen Zahlen und Namen, in denen sich Studer zuweilen verliert, schlecht erfassen. Auch die fehlende theoretische Rahmung, mit allen ihren Widersprüchen zur revolutionären Praxis, lässt die tiefen Beweggründe der Militanten oftmals nur erahnen.
Studer konzentriert sich explizit auf die Biografien von ca. 300 Kommunist*innen. Sie arbeitet deren abenteuerlichen und abwechslungsreichen Arbeitsalltag heraus sowie die Handlungsspielräume in denen sie agieren. Dabei fällt die Auswahl aber vor allem auf solche, die besonders lange Zeit im Apparat der Komintern aktiv waren. Das ist spannend, widmeten diese Aktivist*innen doch einen Großteil ihres Lebens der Komintern. Studer lässt damit aber jene Linksradikalen außen vor, die in der Euphorie der Anfangsjahre zwar Teil des Projektes waren, sich aber angesichts von politischem Dissens bald wieder davon trennten. So wird die Niederschlagung des Kronstädter Matrosenaufstandes 1921, als autoritärer Wendepunkt der russischen Revolution, mit keinem Wort erwähnt. Besonders sichtbar macht Studer jedoch weiblich sozialisierte Akteurinnen und den feministischen Kampf um Emanzipation, der durchaus auch gegen die eigenen Genossen geführt werden musste. Dass sich Macht- und Unterdrückungsformen auch in der Komintern fortsetzen zeigt sich auch an anderen Stellen. Mit wenigen Ausnahmen stehen europäische Perspektiven und Biografien im Mittelpunkt der Betrachtung. Studer selbst begründet das mit dem fehlenden sozialen Kapital der Aktivist*innen aus kolonisierten Ländern, die sich daher nicht in der Komintern durchsetzen konnten, obwohl sich die Revolutionshoffnungen nach dem Scheitern der deutschen Revolutionsversuche Anfang der 20er-Jahre zunehmend auf den Osten Asiens und die kolonisierten Länder richtet.
Bei aller Kritik ist die Lektüre dennoch fesselnd und zeigt vor allem eines: auch aus der akteur*innenzentrierten Geschichte der Komintern lässt sich exemplarisch der Aufbruch und das Scheitern des kommunistischen Projektes nachzeichnen. Geradezu elektrisierend ist die Erzählung vom 2. Weltkongresses der Internationalen 1920 in Moskau: getrieben von Euphorie und Zuversicht reisen 217 Delegierte in die Hauptstadt der Revolution. Verbunden in dem Glauben an die Möglichkeit einer nahenden kommunistischen Zukunft machen sie sich an die Konstruktion einer globalen Organisation von Revolutionär*innen. Weder „Weltrevolution“ noch „Internationale Solidarität“ sind hier propagandistische Floskeln. Es sind Versprechen, deren Erfüllung sich die Kommunist*innen, in all ihrer anfänglichen politischen Vielheit, 1920 ganz nahe fühlen. Illustriert wird dies in Studers Buch unter anderem durch Briefe von Hilde Kramer, einer zwanzigjährigen Übersetzerin, die schon in der Münchner Räterepublik Artikel für eine kommunistische Zeitung schreibt und gefälschte Pässe verteilt. Auch sie ist in Moskau zugegen und berichtet mit Begeisterung, dass auf dem Kaiserpalast die rote Fahne weht und im Thronsaal der Kongress tagt und die Weltrevolution diskutiert. Zu diesem ersten Kapitel im erschütternden Kontrast steht das letzte: im spanischen Bürgerkrieg verrät die Komintern die Revolution an die Wahrung sowjetischer Interessen. Die Komintern ist nunmehr nur noch Instrument der sowjetischen Partei und ihrer Repression. Angst, Überwachung und Verrat prägen den Alltag der Antifaschist*innen. Die Hoffnung auf die Weltrevolution ist aufgegeben, die Vielheit ist der Vereinheitlichung gewichen. Die Mehrheit der im Buch skizzierten Lebensläufe endet im stalinistischen Terror. Studer zeigt, dass es in all den revolutionären Aufbrüchen der 20er-Jahre, sei es in Deutschland oder China, eine kontinuierliche Entwicklung gibt von zunehmender Kontrolle, Ausschließung und Opportunismus. Und sie zeigt auch: die sowjetische Vormachtstellung ist im Moskauer Gründungskongress der Komintern schon angelegt, da sich die internationalen Genoss*innen an der erfolgreichen Revolution orientieren.
Die verschlungenen Wege der Kommunist*innen mitzuverfolgen ist in vielerlei Hinsicht berührend. Wenn Studer detailliert schildert, welche Maßnahmen die Revolutionär*innen in Shanghai gegen die Repressionen treffen, nur um letztendlich doch verraten zu werden und aufzufliegen, können die Leser*innen förmlich fühlen, wie revolutionäre Freude, Aufbruchstimmung und Zuversicht, in Angst, Niedergeschlagenheit und Trauer umschlagen. Beeindruckend ist dabei vor allem die Militanz der international vernetzten Avantgarde. Oftmals geben sie ihr ganzes altes Leben auf, um sich in den Dienst der Partei und der Revolution zu stellen, reisen je nach Auftrag von einem zum anderen Ort und nehmen Gefängnis, Folter oder Tod in Kauf. Immer gelten größte Vorsichtsmaßnahmen gegen Repression und gleichzeitig die Bereitschaft, von allen notwendig erscheinenden Mitteln Gebrauch zu machen. Dennoch: auch Scheitern und Zweifel werden als Teil des nomadischen Lebens, oftmals in den Nischen der Illegalität, geschildert. Nicht weniger konsequent waren die Kommunist*innen in ihrem Internationalismus. Es ging um nicht mehr und nicht weniger als darum, die ganze Welt zu gewinnen, die Menschen zu befreien von Rassismus, Sexismus, Kolonialismus und Klassenherrschaft. Und zwar gemeinsam und über alle Grenzen hinweg. Aber auch hier glorifiziert Studer nicht. Der Status von weiblich sozialisierten Militanten und Aktivist*innen aus kolonialen Ländern bleibt in der Komintern marginalisiert.
Bei aller Widersprüchlichkeit und Uneindeutigkeit, ist eines sicher: es gibt noch abertausende Geschichten der Weltrevolution zu erzählen. Auch auf über 600 Seiten wird die Autorin damit nicht fertig. Die lehrreiche Studie von Brigitte Studer sei jedoch all jenen ans brennende Herz gelegt, die in einer traurigen Gegenwart Trost und Ermutigung suchen, in dem Versprechen auf eine bessere Zukunft – aus der Vergangenheit.
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Brigitte Studer: Reisende der Weltrevolution. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 618 S., 30 €